
Bericht 1:
Frau Helene Ströse, geb. Gelhaar, flüchtete 1945 mit ihrem Mann Gustav Ströse und dem 4 Jahre alten Sohn Klaus aus Mohrungen in Ostpreußen. Ihr Mann, 1944 schwer verwundet, Bein amputiert, verlebte mit ihnen ein frohes Weihnachtsfest 1944.
Kanonendonner von der Front überschattete das Fest, Nachrichten von Flucht und Russeneinfall störten den Frieden daheim. Die wichtigsten Sachen wurden gepackt und standen zum Abtransport bereit. Behörden, Parteiorgane beruhigten die Bevölkerung, so daß man abwartete. Das neue Jahr brach an, was wird es bringen?
,,Der Russe kommt ! " diese Schreckensmeldung verbreitete sich in Windeseile. Keine Züge fuhren, kein Abtransport erfolgte. Gustav Ströse nahm, wie viele andere auch, die Zügel buchstäblich selbst in die Hand, es galt, die Familie zu retten. Von einem befreundeten Bauern holte er ein Pferd und einen Schlitten, lud die Familie und das Gepäck auf, und fort ging es am 12.1.1945 in Richtung Pr. Holland. Ein Chaos herrschte auf den Straßen, Trecks verstopften sie. Wagen lagen umgekippt im Straßengraben, verendete Pferde säumten den Weg. Verzweifelte Frauen mit Kindern und alte Männer und Frauen stapften durch den Schnee, nur weiter, immer weiter. Lag in Pr. Holland die Rettung? Dort erwartete die Familie restlos blockierte Wege, es ging weder vorwärts noch rückwärts, denn diese Stadt war im Aufbruch und vermehrte dadurch das Chaos. Gerüchte kursierten vom Durchbruch sowjetischer Panzerverbände, die Not und Elend über die zurückgebliebene Bevölkerung brachten.
P1ötzlich hielt ein Lastwagen mit Soldaten neben der erschreckten Familie und ,,wollen Sie mit ?" klang das verlockende Angebot. Der Schlitten blieb mit den Koffern zurück, das Pferd spannte Gustav Ströse aus und ließ es laufen. Nur mit Handgepäck und dem in eine Wolldecke eingepackten Klaus ging es auf den Lastwagen. Dort kauerten schon in einer Ecke neben Soldaten 4 Geschwister zwischen 4 und 12 Jahren, Mutter tot und Vater Soldat; alleine versuchten sie durchzukommen. Dankbar nahmen sie Brot an, das Helene Ströse mit ihnen teilte. Inzwischen brauste das Auto weiter in Richtung Elbing über Felder und Nebenstraßen. Da, schon war Elbing in Sicht, als ein Bombardement Soldaten und Flüchtlinge aufschreckte. Sie spähten hinaus und hörten die Detonationen der in Elbing einschlagenden Geschosse.
P1ötzlich, fremdartige Laute tönten an ihr Ohr. Ein sowjetischer Panzer richtete seine Kanone auf die Wehrlosen im Auto, und der Panzerkommandant brüllte ,,Raus!" Erschreckt sprangen alle in den Schnee. Doch ehe sie sich recht besannen, gab es einen ohrenbetäubenden Knall und der Panzer flog auseinander. ,,Rauf", ertönte ein Schrei, alle stürmten zurück auf das Auto, und es brauste davon. Gerettet! Erst jetzt bemerkte Ehepaar Ströse einen blutüberströmten jungen Soldaten. Er hatte eine Panzerfaust abgeschossen, den Panzer damit zerstört und die Besatzung des Wagens gerettet. Er hatte sein Leben geopfert, er verblutete auf der Weiterfahrt. Man begrub ihn bei dem nächsten Halt, irgendwo zwischen Elbing und Marienburg. Ruhe fanden die Todmüden in dem Saal einer Gastwirtschaft am Wegesrande, wo schon Unzählige von den Strapazen ausruhten.
Gustav Ströse drängte am nächsten Tag zum Aufbruch. Mit einem Wehrmachtswagen fuhr man weiter an Marienburg vorbei über die Weichselbrücke bei Dirschau. Die Familie schlief in Massenquartieren auf Stroh, nährte sich von trockenem Brot, wenn vorhanden, kaute Steckrüben und war glücklich, wenn sie für den Kleinen hin und wieder eine Tasse Milch ergatterten.
Endlich war nach tagelanger Fahrt Stettin in Sicht. Hier fuhren noch Züge nach dem Westen. Welch ein Glück, man stieg ein, wohin der Zug aber fuhr, wußte man nicht. Einen Tag und eine Nacht raste der Zug dahin, überfüllt mit Verwundeten und Flüchtlingen. Oft hielt er auf offener Strecke. Wenn er endlich weiterfuhr, atmeten die Fahrgäste auf. Schließlich Neu Ruppin, der Zug hielt, Familie Ströse stieg aus. Der Ort war bekannt, hier hatte Gustav Ströse im Lazarett gelegen. Doch wohin wenden? Hand in Hand zog das Ehepaar durch den Ort mit leerem Magen, das Kind auf den Armen. Da fiel der Blick auf eine Gaststätte, man hatte Geld und Lebensmittelkarten. Sie betraten den Gastraum, sahen die schön gedeckten Tische, die gut gekleideten Gäste, die die kleine Familie anstarrten. Ein Ober eilte herbei, führte sie zu einem Tisch, der Geschäftsführer fragte nach dem Woher, und als er hörte, daß sie mit knapper Not den Russen entkommen und auf der Flucht wären, ließ er auftischen: Gemüse, Kotelett und eine Schüssel voll Kartoffel. Das war die erste warme Mahlzeit nach wochenlanger Flucht; sie mundete köstlich nach all den Entbehrungen und ging auch noch auf Kosten des Hauses. Klaus genoß seine Milch. Die Gäste kamen und fragten und fragten. Ströses waren die ersten Ostflüchtlinge, und bei seiner Anmeldung durfte Gustav Ströse sich sogar ins Goldene Buch der Stadt eintragen. Unterkunft bekamen sie bei einer Offiziersfrau in der Nähe des Bahnhofs, die sie liebevoll aufnahm und versorgte, ihnen Kleidung gab zum Wechseln.
Obwohl der Ort von feindlichen Bomberverbänden überflogen wurde, die ihre gefährlichen Ladungen in Berlin abluden, ging die Bevölkerung in die Luftschutzkeller, wenn die Flugzeuge gemeldet wurden. Eines Tages bombardierten sie auch Neu Ruppin. Sie trafen das Bahnhofsgebäude, und eine Luftmine radierte viele Häuser der Bahnhofstraße aus. Ströses saßen im Keller, die eine Hälfte des Hauses stürzte ein und verschüttete den Ausgang. Gott sei Dank gruben Nachbarn die Eingeschlossenen heraus. Man brachte die Familie bei einem alten Herrn unter. Da weitere Bombardierungen folgten, beschloß Gustav Ströse, weiter über die Elbe zu ziehen, evtl. zur Schwester nach Hannover. Der alte Herr schenkte ihnen zwei Herrenfahrräder. Mit Klaus auf dem Fahrrad radelten sie weiter zur Elbe, immer bereit abzuspringen, um im Chausseegraben Deckung zu suchen, da feindliche Flieger oft über ihnen kreisten und alles, was sich bewegte, unter Beschuß nahmen. Sie ließen sich schließlich bei Alt Garge mit der Fähre über die Elbe setzen.
Auf dem Wege nach Hannover blieben sie in Dahlenburg hängen; da die Straßen und Wälder unsicher waren, fuhr man nicht weiter. Hier in Dahlenburg fanden sie Unterkunft, hatten ein bescheidenes Zimmer, ein Dach über dem Kopf, besaßen am Anfang 2 Betten, 1 Schrank und 2 Stühle, arbeiteten in der Landwirtschaft 10 und mehr Stunden und schufen sich schließlich ein eigenes Heim.
Bericht 2:
Mein Name ist Ursula Erdmann. geb. Wedemeyer, Ich kam mit meiner Mutter, Martha Wedemeyer, geb. Volkmer, am 7. März 1945 nach Dahlenburg.
7. März 1945: Nach der Flucht vor der heranrückenden russischen Front aus Bad Landeck in Schlesien am 22. Januar und nach schwerem Bombardement- und Hungerwochen in Berlin endlich Aufbruch in die, wie es heißt, noch friedliche Lüneburger Heide. Abfahrt gegen 7.30 Uhr vom Lehrter Bahnhof nach Wittenberge, wo am Nachmittag ein Anschlußzug nach Lüneburg über Dannenberg fahren soll.
Warum nach dem uns ganz unbekannten Dahlenburg ? Ein Vetter von mir ist Schüler in Marienau, und seine Mutter, die Schwester meiner Mutter, hat nach teilweiser Ausbombung in Hamburg Unterkunft in Dahlenburg gefunden. Sie wiederum hat uns ein Zimmer in ihrer Nähe gemietet.
Der Bummelzug nach Lüneburg fährt erst am späten Nachmittag in Wittenberge ab. Er bummelt wirklich, oft Halt auf freier Strecke. In Dömitz ist es dann dunkel. Halt außerhalb des Bahnhofs. P1ötzlich Tieffliegerbeschuß, alle im Abteil ducken sich oder drücken sich auf den Boden, so weit das bei der Fülle möglich ist. Einige Abteile sind getroffen, nicht das unsere. Rotes Kreuz taucht auf, und irgendwelche Menschen werden weggeschafft, der Zug fährt sehr bald weiter. Wir rollen über die Elbbrücke, über Dannenberg nach Dahlenburg.
Beladen mit dem letzten uns verbliebenen Besitz, jeder mit einem Rücksack und einem schweren Koffer, steigen wir aus. Es ist etwa 21 Uhr. Zu unserem Erstaunen herrschen hier aber noch Verhältnisse ,,wie im Frieden", man kann Gepäck bei der Aufbewahrung lassen, und morgen wird ein Fuhrmann namens Breuel die Sachen abholen und sogar ins Haus bringen. Unser Mut steigt, und nur mit den Rucksäcken beladen, machen wir uns auf den uns beschriebenen Weg, die Straße entlang, ca. 3 km weit. Inzwischen geht es auf 21.20 Uhr. P1ötzlich ist es kurz hell, und immer wieder leuchtet es irgendwie auf. Der Schein kommt von links aus etwa Nordwesten. Hier sehen wir zum ersten Mal einen Bombenangriff. Er begleitet unseren weiteren Weg, und wir erfahren später, daß es ein schwerer Angriff auf Harburg war. Trotz allen Schreckens fühlen wir uns sicher, endlich entfernt von direkter Lebensbedrohung.
Aber immer noch kein Dahlenburg mit Bahnhofstraße. Auf einmal sind Stimmen entfernt zu hören, zwei Frauenstimmen, die näher kommen.
Meine Mutter erkennt die Stimme ihrer Schwester. Wir rufen laut und erhalten Antwort. Nach wenigen Minuten treffen wir zusammen. Meine Tante ist in Begleitung ihrer Hauswirtin uns in Sorge entgegengegangen, da wir sehr verspätet sind. Villa Nora ist nun schnell erreicht. Wir genießen ein warmes Zimmer und das Gefühl der sicheren Ankunft. Danach geht es in unser Quartier, ein 6 qm kleines Zimmerchen im Horner Weg, das für die nächsten 18 Monate unsere Wohnung sein wird. Wir sind erst einmal froh, nach langer Zeit eine volle Nacht schlafen zu dürfen, ohne vom fernen Dröhnen russischer Artillerie oder von Fliegeralarmen aufgeschreckt zu werden wie in den hinter uns liegenden 6 Wochen.
8. März: Die ersten Eindrücke von Dahlenburg bei Tageslicht. Durch den Postweg gehen wir zum Ort. Es ist unfreundliches Nieselwetter, das läßt den Ort recht trostlos erscheinen. Dieses Gefühl verstärkt sich, als wir auf den Markt kommen. Der Marktplatz ist mit Stroh ausgelegt. Darauf stehen oder liegen abgemagerte Pferde vor plangedeckten Wagen, an und auf denen sich Leute zu schaffen machen. Das sei ein Teil des Flüchtlingstrecks aus Eichenbrück im Warthegau, hören wir. Und was wir sehen, sagt uns, wie viel diese Menschen schon durchgemacht haben auf ihrer Flucht. Ein Gefühl von verzweifeltem Verlust erfüllt uns. Meine Mutter, immer mutig vorausblickend, spricht den denkwürdigen Satz: ,,Na, sechs Wochen werden wir es hier schon aushalten, dann ist alles vorbei, und wir können wieder zurück!" Wenig ahnte sie, daß hier ihre neue und schließlich sehr geschätzte Heimat sein würde.
In den folgenden letzten Kriegswochen richten wir uns ein, bekommen Kontakt mit den Einheimischen, freundliche Kontakte ebenso wie gespannte. Wie überall, wo besitzlose, ungerufene Gäste erscheinen, gibt es Spannungen mit jenen, die sich im verbliebenen Besitz bedroht oder eingeengt fühlen.
9. April: Dahlenburg wird von den britischen Truppen ,,erobert". Im Horner Weg spielt sich das für uns folgendermaßen ab: Ein sommerlicher Tag fast. Am Mittag fährt ein kleines Häuflein deutscher Soldaten auf Fahrrädern vorbei, einer kommt in unser Haus und bittet um etwas zu essen. Wir geben alle so viel wir entbehren können und dazu noch eine kleine Kanne ,,Muckefuck". Die Engländer seien bald hier, heißt es. Etwa zwei Stunden, nachdem sie weiter in Richtung Gut Horn geradelt sind, schiebt sich der erste britische Panzer vorsichtig auf der Straße von Lemgrabe heran. Nicht lange danach kommt ein anderer vom Bahnhof her auch auf den Horner Weg gefahren. Soweit ich mich erinnere, hatten die Hausbesitzer ringsherum weiße Bettlaken aus den Häusern gehängt. Jedenfalls taucht aus diesem Panzerturm ein Kopf mit rotem Barett auf, kanadische Truppen.
Ich erinnere mich nur an das überwältigende Gefühl: der Krieg ist vorbei! Am Abend bringt ein englisches Kommando eine Gruppe deutscher Kriegsgefangener auf das unserem Haus gegenüber liegende freie Feld, wo sie im Freien in dem inzwischen einsetzenden leichten Regen kampieren müssen. Der Krieg ist für sie und für uns endgültig vorbei.
Später ziehen dann tausende heruntergerissene ehemalige deutsche Soldaten einzeln oder in Gruppen durch Dahlenburg, jeweils nach Hause oder auf der Suche nach ihren aus dem Osten geflüchteten Familien. Sie finden Quartier und Essen bei einigen größeren Bauern; ich erinnere mich dabei vor allem an den gastfreundlichen Uffmann-Hof, auf dem auch ich dann zeitweilig arbeite. Es tut einem immer weh, diese abgerissenen Gestalten zu sehen, da man weiß, daß sie ebenso wie wir Flüchtlinge nur mit dem nackten Leben diesem Krieg entronnen sind. Und die Frage bleibt, ob die Angehörigen der eigenen Familie unter den Davongekommenen sind oder in Rußland umkommen. Ab und zu bringt so ein durchziehender Soldat mündliche oder schriftliche Nachricht von einem anderen mit. Auch für uns eines Tages. Mein Vater ist in russischer Gefangenschaft. Wir sollten ihn nie wiedersehen.
Wie haben wir uns dann eine neue Existenz in dieser neuen Heimat aufgebaut ? In unserem Fall galt, daß man nicht verlieren kann, was man gelernt hat: Meine Mutter war Lehrerin gewesen. Sie begann, gleich nach Kriegsschluß, im Mai 1945, Privatkurse in Englisch anzubieten. Ein Anschlag am ,,Schwarzen Brett" auf dem Marktplatz brachte ihr sofort 12 erwachsene Schüler, von denen jeder 1 Reichsmark pro Stunde bezahlte. Sie teilte die 12 Personen in zwei Gruppen und unterrichtete jede Gruppe zweimal die Woche abends in der Veranda unserer Wirtsleute. So begann ihre fruchtbare Lehrertätigkeit in Dahlenburg, die sich im Frühjahr 1946 vollzeitig in Marienau fortsetzte. Im Herbst 1946 wurde sie an der Volksschule Dahlenburg angestellt, wo sie bis 1966 wirkte.
Ich selbst überstand das Jahr 1945, indem ich in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben arbeitete. Als die Oberschulen in Lüneburg wieder aufmachten, fuhr ich täglich mit der Bahn dorthin und machte 1948 Abitur an der Wilhelm-Raabe-Schule.
Studium, Beruf und spätere Auswanderung mit meiner Familie nach USA führten mich weit fort von der Lüneburger Heide. Trotzdem blieb Dahlenburg/Marienau meine zweite Heimat, da meine Mutter dort ihren Wohnsitz hatte und ein Zuhause für uns alle bis zu ihrem Tode 1984 behielt. Freunde sorgen heute noch weiter dafür, daß ich mich samt meiner Familie in Dahlenburg beheimatet fühlen kann. Was als vorübergehende F1üchtlingsunterkunft begonnen hatte, wurde zur liebgewonnenen zweiten Heimat.
Bericht 3:
Charlotte Riebold, geb. Hadamczik berichtet:
Einen Brief konnte ich von meinem Mann in Empfang nehmen, mit der traurigen Nachricht, daß er sich am 18. Januar zum 2. Aufgebot des Volkssturmes in Hohensalza stellen mußte.
Nach Hohensalza zu kommen, war unmöglich. Soldaten mit ihren Lkw`s holten uns aus den Häusern, denn abends würde der Russe in Goldberg sein. Die Soldaten brachten uns bis Görlitz. Dort standen Züge bereit, um die Menschen nach dem Westen zu bringen. Wir verließen in Dresden den Zug, da wir bei einer Tante nächtigen konnten, es war am 13. Februar. Menschen über Menschen strömten in die Bahnhofshalle, wir durften uns nicht verlieren. Endlich standen wir im Freien, schauten nach allen Seiten. Da trat ein Junge in Jungvolk-Uniform zu uns heran. Er zog einen kleinen Leiterwagen, denn er war im Dienst. Er brachte Mütter und Kinder ,,an Ort und Stelle." So waren wir sehr beruhigt, als wir bei meiner Tante ankamen, ohne in der Zwischenzeit einen Luftangriff erlebt zu haben.
P1ötzlich dröhnten angloamerikanische Flugzeuge, ohne daß vorher Vollalarm gegeben worden war. Bomben fielen. Schnell nahm ich die Kinder aus den Betten, nur notdürftig bekleidet, die warmen Mäntel übergezogen, trug ich sie in den Keller, Mutter und Tante kamen hinterher. Gedrängt stehende Hausbewohner, weinende Kinder, Mütter, die sich über ihre Kinder beugten, um sie zu beruhigen. Das Haus wurde beschädigt. Wir mußten den Keller verlassen, teils durch die Tür, teils kletternd durchs Kellerfenster. So torkelten wir von einem Haus in das andere. P1ötzlich war Ruhe, die Flugzeuge hatten abgedreht. Die Menschen liefen durcheinander, keiner wußte, welche Richtung einzuschlagen war. Schreie, weinende Kinder und Erwachsene. Phosphorflammen züngelten rechts und links, brennende Bäume, umgestürzte Bäume lagen herum. Es war taghell - die Flammen spendeten das Licht - der Himmel ,,brannte". Wir durften uns nicht verlieren. Mutter trug ein Kind und ich das andere, Tante schleppte den Koffer. Endlich konnten wir einige Kräfte sammeln: ein nicht brennender Baumstamm war ein notdürftiger Sitz. Ein einzelnes Flugzeug überflog uns, ziemlich niedrig. Ein Lautsprecher ertönte in deutscher Sprache: ,,Rette sich, wer kann, in den Zwinger, der nächste Angriff erfolgt !" Wir befanden uns in der Nähe des Zwingers. Es war schwer zu entscheiden, ob man sich dem Menschenstrom in Richtung Zwinger anschließen sollte. ,,Nein", sagte mir eine innere Stimme, die Kinder könnten erdrückt werden. Die kleine Ruhepause hatte uns gut getan. Wir nahmen alle Kräfte zusammen, entdeckten einen großen Platz, dem wir zustrebten. Das einzelne Flugzeug kreiste noch immer, so blieb uns Zeit. In der Ferne erblickten wir ein größeres Gebäude, das wollten wir erreichen in der Hoffnung, einen Luftschutzkeller vorzufinden. Man kann es nicht beschreiben, welche Gedanken in uns aufkamen. Ich glaube, viele Menschen hatten ein Gebet auf den Lippen! Wir mußten immer wieder stehen bleiben, Kraft sammeln, die Kinder beruhigen, denn sie weinten ab und an.
Welch ein Wunder, wir standen vor dem Gebäude und sahen ein großes Schild: ,,Luftschutzkeller für Mutter und Kind und ältere Menschen". Ein sehr gut eingerichteter Keller! Hilfsbereite mitfühlende Frauen nahmen uns in Empfang. Wir konnten uns waschen, nach Möglichkeit bekamen wir saubere Wäsche. Die Beköstigung gab uns wieder neue Kräfte. Wir legten uns auf Feldbetten zur Ruhe. Nun kamen wir etwas zur inneren Besinnung. Gott sei Dank, die Kinder schliefen friedlich.
Da - nach kurzer Zeit: Alarm, und schon dröhnten die Flugzeuge, und Bomben fielen, vor denen sich die Menschen in den Zwinger ,,retten" sollten. In dieser Nacht wurde auch der Zwinger zerstört! Tausende von Frauen, Kindern und Männern mußten ihr Leben lassen, viele sprangen mit ihren brennnenden Kleidern in die Elbe. Alle Menschen in dem Keller blieben verschont.
Der Dichter Gerhard Hauptmann erlebte Dresden. Er schrieb: ,,Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang von Dresden. Dieser heitere Morgenstern hat bisher der Welt geleuchtet ...."
P1ötzlich erinnerte sich meine Tante, daß der Junge seinen Leiterwagen im Hof stehen gelassen hatte. Sie war auch besorgt um das Haus, es war ja nicht ausgebrannt, zusammengestürzt. So machte sie sich auf den mühsamen Weg über Schutt und Asche. Meine Tante kam mit dem Leiterwagen. Erschöpfung stand in ihrem Gesicht, aber sie war glücklich! Sie fand den Wagen unversehrt im ehemaligen Hof, umgeben von Schutt. Eine Helferin legte eine Decke und ein Kissen in den Wagen, damit die Kinder wohlgeborgen ruhen konnten, der kleine Koffer meiner Tante hatte auch noch Platz. Ein Päckchen Brote sollte uns Stärkung geben auf dem Wege in unsere noch unbekannte Bleibe. Dankbaren Herzens nahmen wir Abschied von den lieben, hilfsbereiten Frauen.
So zogen wir am Vormittag des 14. Febr. 1945 außerhalb Dresdens, mit vielen Schicksalsgefährten, um eine Bleibe zu suchen. Wir fühlten uns alle sehr schwach. Der Gedanke, was wird nun mit uns allen, nahm uns seelische Kräfte. Frauen kamen aus den Häusern und reichten uns Erfrischungen. Bäuerliche Gespanne kamen uns entgegen. Sie nahmen uns auf, um uns in den nächsten Dörfern unterzubringen. Wir landeten in Hartmannsdorf, Erzgebirge, in einem kleinen Zimmer mit drei Betten. Nur die Kleidung, die wir am Körper hatten, war unser Besitz. Das größte Geschenk: wir waren am Körper unversehrt - aber das Herz blutete.
Dort erlebten wir den Russeneinfall, es war grauenvoll!
September 1945 fielen mir drei Hamburger Adressen meines Schwagers ein - ich nahm Verbindung auf. Umgehend teilte er mir mit: im Herbst, Oktober 1945, würden die Grenzen nach dem Westen geöffnet - für ein paar Tage! Die Eltern, meine Schwiegereltern, wären in Dahlenburg.
Hunderte von Menschen standen auf der Straße zum Grenzübergang, Russen ,,bewachten" uns und trieben zwei Tage und Nächte ihr Unwesen, bis wir schubweise von Engländern in Empfang genommen würden, die die Menschen mit belegten Broten und Kaffee versahen. Truppweise wurden wir zum Bahnhof gebracht, um endlich in Friedland - Durchgangslager - anzukommen. Eine Nacht im Lager, mit Registrierschein versehen, Fahrt nach Lüneburg, Ankunft in Dahlenburg! Meine Schwiegereltern nahmen uns in Empfang, sie waren schon vor Ende des Krieges in Dahlenburg gelandet, bewohnten ein kleines Zimmer im Postamt, wo Schwiegervater, ehemals Postbeamter, als Aushilfe tätig war. Meldung bei der Gemeindeverwaltung, Erhalt eines Berechtigungsscheines für drei Übernachtungen im Hotel Schoop. Unsere Brustbeutel wurden immer leichter, die Reichsmark rettete uns vor dem Verhungern.
Der vierte Tag brach an, wohin werden wir wohl ,,verfrachtet ?" Wieder zum Amt, mit einem Margarinekasten voll Sachen, dem Wägelchen mit den Kindern. Auf dem Schein stand: Gartenstraße, Nähe Molkerei/Schulgebäude, ein kleines Häuschen. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, mit bitterer Miene öffneten sie uns. Sie hatten schon telefonisch Kenntnis erhalten ! Das kleine Zimmer ,,beherbergte" zwei Bettstellen mit Matratzen, einen Tisch, zwei Stühle, einen kleinen Waschständer, einen Kachelofen und nun uns vier Menschen. Dank erfüllte uns: ein Dach über dem Kopf, alles andere wird sich schrittweise finden, so waren immer meine Gedanken, besonders, da uns die schwere Dresdener Nacht am Leben ließ. Die Tageseinteilung wurde uns mitgeteilt: zwischen 5 und 6 Uhr morgens Küchenbenutzung. Den Tag über hatten wir keine Küchenbenutzung, erst abends nach sieben Uhr. Wir konnten uns bei Schoop Essen holen gegen Bezahlung, unsere Reichsmark nahm ja noch kein Ende. Zur Kaffeezeit erhielten wir einen Krug mit Kaffee von Kurlbaum. Inzwischen hatten wir Geschirr usw. anschaffen können. Decken und einen Strohsack zum Schlafen für mich - er wurde tagsüber unter ein Bett geschoben - und Heizmaterial erhielten wir vom Bürgermeisteramt.
Weihnachten nahte. Ich begegnete einer Frau mit einem kleinen Mädchen, wir kamen in ein Gespräch: auch aus Hohensalze. Sie wohnte in einem kleinen Zimmer bei Friseur Öttling, mit ,,totaler" Küchenbenutzung. Sie kam an beiden Feiertagen zu Besuch, brachte selbstgebackenen Kuchen und eine große Kanne Kaffee mit. Gemeinsam mit den Schwiegereltern feierten wir Weihnachten.
Der nächste Tag brachte uns ,,das neue Zuhause".
Vom Gemeindediener wurde eine Bescheinigung überbracht: Zuweisung einer neuen Bleibe, Am Markt 10. Ein großes Haus mit einer Schmiedewerkstatt, das wir mit unserer wenigen Habe betraten. Wir wurden in das gemütliche Wohnzimmer gebeten. Ein freundliches Ehepaar, Schmiedemeister Jacobs mit Frau, zwei Knaben, etwas älter als meine beiden Söhne, empfingen uns. Ich glaube, empfunden zu haben, daß in ihren Blicken ein Wohlwollen lag, aber dann wieder Zweifel, als sie uns sagten, sie hätten nur noch ein Zimmer frei und keine Möbel, um sie uns abzugeben. Sie führten uns in den ersten Stock. Ein großer Raum mit großem Fenster, die Kinder waren begeistert, konnten sie endlich ihr kleines Holztier mit Leine durch den Raum ziehen. Vorher hatten sie doch die Enge erlebt!
Wir beschlossen, im Ort hier und da in verschiedenen Häusern nach Bettstellen usw. zu fragen. Wir waren beeindruckt und glücklich: am Abend war das Zimmer ein Schlaf- und Wohnzimmer. Ein Herd und eine kleine Bank, Wasserleitung mit Wandwaschbecken dienten als Küche. Ein Wort zum Herd: spontan hatte sich unser neuer Hauswirt ins Auto gesetzt, er wußte, wo ein gebrauchter Herd stand im benachbarten Ort.
Nachbarsleute konnten einen alten Soldatenspind entbehren. Die spontanen Hilfen waren beeindruckend, sie werden unvergeßlich bleiben. Ehepaar Jacobs war immer bereit, ein Gespräch zu führen. Im Laufe der Zeit gab es viele persönliche Dinge, die mich innerlich bereicherten. So stärkte sich die Bindung, und ich fühlte mich geborgen. Alles trug dazu bei, sich zuhause zu fühlen.
Der Blick aus dem Fenster hatte etwas Vertrautes. Ein großer Birnbaum regte zum Träumen an, in seinen Ästen sah ich den heimatlichen Obstgarten. Ich erzählte meinen Kindern davon, die Kindheit wurde wach, und meine Mutter berichtete von manchen Erlebnissen. Mir wurde bewußt: Dahlenburg bot uns - nach all den Kriegswirren - in seiner dörflichen und etwas kleinstädtischen Idylle eine große Geborgenheit, besonders für die Kinder.
Vor der Schmiede Jacobs ,,tat" sich so manches: Pferde wurden zum Beschlagen gebracht, Ackergeräte abgeladen. Die Dahlenburger wurden uns schnell vertraut, man begegnete sich oft in den Geschäften, auf den Bürgersteigen. Erst wurden nur belanglose Worte gewechselt, dann ergab sich manche Teilnahme an irgend einem persönlichen Geschehen, das Fremdsein ließ allmählich nach.
Im Jahre 1946, im Herbst, kam eine große Anzahl Vertriebener aus Schlesien, sie waren 1945 auch geflüchtet, vermochten aber, nachdem sich in Schlesien die Russen zum Teil zurückgezogen hatten, wieder in ihre Dörfer zurückzukehren. Dort waren schon von den Russen einige Polen angesiedelt worden. Aber bald trieben diese Polen die Deutschen gen Westen. Es waren Menschen aus dem Kreis Strehlen. Die Dahlenburger rückten noch mehr zusammen.
1948/49 vereinigten sich die Ostdeutschen im Bund der Vertriebenen, so auch in Dahlenburg. Sie teilten sich auf in einzelne Landsmannschaften: Ost- und Westpreußen, Weichsel-Wartheländer, Pommern, Schlesier. Jede Landsmannschaft pflegte ihre Sitten und Gebräuche. Die Dahlenburger horchten auf, sie machten sich Gedanken über uns alle aus dem Osten; sie begannen, uns stärker ,,innerlich anzunehmen".
Verschiedene Ostdeutsche traten in Dahlenburger Vereine ein. Gemeinsam wurden Feste gefeiert. Das Schützenfest war für alle Bewohner, groß und klein, immer ein großes Erlebnis; auch wir alleinstehenden Frauen wurden von unseren Wirtsleuten mitgenommen. Ein schwieriges Kapitel trat bald in den Vordergrund: Die Vorbereitungen für die geldliche Versorgung der Kriegerwitwen mit den Kindern usw. Es ergab sich, viel Schriftliches zu erledigen, Fahrten nach Lüneburg zu den jeweiligen Ämtern. Bis zum Erhalt der Versorgungsbescheide traten die zuständigen Fürsorgestellen ein. Wir wurden aufgefordert, um den Mangel an Arbeitskräften zu beheben, den Bauern auf den Äckern zu helfen. Wir Flüchtlingsfrauen nahmen uns oft trocken Brot und ein G1äschen Quark oder Marmelade für die Vesperpause mit. Die einheimischen Frauen, die mit uns arbeiteten, ließen das nicht zu und schenkten uns Wurstbrote. Es herrschte oft eine fröhliche Stimmung auf dem Feld, Gemeinsames Volksliedersingen ermunterte uns.
Die F1üchtlingskinder lebten ja mit ihren Eltern sehr beengt - in den ersten Jahren. Um den Kindern Abwechslung zu verschaffen, versammelte ich sie ein- oder zweimal wöchentlich um mich. Gasthof Schoop stellte uns einen Raum zur Verfügung. Wir sangen, spielten, bastelten, und als wir uns alle näher kannten, übte ich mit ihnen kleine Theaterstücke, Gedichte und Tänzchen ein. Damit gingen wir in die ,,Öffentlichkeit", auch einheimische Kinder gesellten sich zu uns. Mit einem kleinen Klavierstück wurden die Darbietungen ,,untermalt". Die Eltern hatte Freude, das Miteinander war wertvoll.
Eine schlesische Sitte ließ ich mit der Kindergruppe aufleben: das ,,Sommersingen am Sonntag Lätare". Eine Gruppe Kinder, singend, mit einem mit bunten Bändern geschmückten Stock, zog durch den Ort, an der Spitze ein Akkordeon-Spieler. Wir blieben vor einzelnen Häusern stehen und sangen unsere Sommertagslieder. Das brachte den Kindern so manche Süßigkeit ein. In den ersten Jahren bekamen wir ab und an mal Besuch von einer Dame vom DRK. Es war Lenchen Wagner, sie verteilte Kleidungsstücke an die Kinder im Ort. Das war eine Freude! In den Geschäften war ganz selten etwas zu kaufen. Wir waren dankbar, als vom DRK eine Einweisung für Klaus kam: eine Erholungszeit im Schwarzwald. ,,... Oft kam von irgendwo ein Lichtlein her" - zum Wohle der Kinder.
Eine riesengroße Hilfe war für uns, unsere lieben Wirtsleute ließen uns mietfrei wohnen. Ich wollte mich erkenntlich zeigen, so bot ich mich an, wenn sie im Haushalt Hilfe brauchten, stellte ich mich zur Verfügung. Die Familie war groß, es hat mir viel Freude bereitet, mich dankbar zu erweisen. --
Nach neunzehn Jahren nahm Charlotte Riebold schweren Herzens Abschied von Dahlenburg und zog 1964 nach Lüneburg.
Ihr perönlicher Beitrag über Vertreibung aus der Heimat, über die Wirren der letzten Kriegstage und ihre Aufnahme in Dahlenburg sind erlebte Zeitgeschichte.